Georg über Lebens- und Denkgewohnheiten des „Mittelstandes": Die Angestellten (1921) in "Unser Stand vor dem Abgrund":
Die Angestellten gehörten bisher zum Mittelstand. Daß ihr Einkommen zumeist nicht viel höher war als das des Arbeiters, ja oft noch dahinter zurückblieb, beweist nicht das Gegenteil, sondern nur, daß die gesellschaftliche Stellung eines Berufes nicht unbedingt und unter allen Umständen abhängt von seiner wirtschaftlichen Lage. Wer will ernstlich bestreiten, daß die Lebensführung des Angestellten höher war als die des Arbeiters! Der Angestellte kleidete sich besser, wohnte vornehmer, besaß mehr gediegeneren Hausrat, nahm bildenden Unterricht, besuchte Vorträge, Konzerte oder Theater und las gute Bücher. Seine Lebenshaltung glich dadurch, zwar nicht dem Umfange und der Freiheit nach, doch in der Art derjenigen besitzender Kreise. Dieses anspruchsvollere Auftreten hatte seine Ursache weder im Dünkel, noch allein in den Erfordernissen des Berufes. Es war der durchaus berechtigte Ausdruck eines tieferen Bedürfnisses, einer feineren geistigen und seelischen Bildung. In dieser Feststellung liegt keine Herabsetzung des Handarbeiters, wohl aber liegt darin ein Vorwurf gegen die Freigewerkschaftler und Parteisozialisten, die den Angestellten unter Verkennung der Tatsachen als Stehkragenproletarier verspotteten ... Die Arbeit erschien ihnen nicht, wie dem Arbeiter, als unvermeidliches Übel, sondern war ihnen seelische Befriedigung. Deshalb konnte sich der Stand allen trüben Einzelerfahrungen zum Trotz noch immer mehr oder minder in der Mitarbeiterrolle fühlen.
Seinem Einkommen nach unbestreitbar dem Proletarier am nächsten, seiner Lebens- und Denkgewohnheit entsprechend aber ebenso unbestreitbar dem Besitzenden am verwandtesten - so hielt der Angestellte zusammen mit dem Kleingewerbetreibenden die Mitte; daher die Bezeichnung Mittelstand.
Der Wert dieses Standes kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die führenden Schichten des Volkes und die seiner Wirtschaft werden aus ihm ergänzt und aufgefrischt. Er selber wird erneuert durch den befähigsten Nachwuchs aus dem Proletariat, das eben dadurch seine besondere Bedeutung hat. Es ist ein fortdauerndes - man achte wieder aufs Wort: - Vermitteln zwischen unten und oben. Es liegt darin naturgewollte, unumgängliche Ordnung. Wer daran zweifelt, prüfe einmal die Lebensgänge der als Gemeindevorsteher, Bürgermeister, Regierungspräsidenten und Minister wirkenden ehemaligen Arbeiter. Soweit sie überhaupt in ihren Ämtern etwas taugen, waren sie zuvor - Angestellte, sei es als Parteisekretäre, Gewerkschaftsführer, Konsumvereinsleiter oder Redakteure.
zit. nach: Deutsche Sozialgeschichte 1914-1945, S. 84f.
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