Margarete Buber-Neumann in "Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrweges" über Berliner Boheme und ihr gesellschaftliches Leben von 1927:
Eines Tages wurde ich Theta Sch. vorgestellt und zu ihr eingeladen. Ich ging gegen Abend, zu etwas ungewöhnlicher Stunde, fand aber das Haus trotzdem voller Menschen. Sie saßen zwanglos umher, unterhielten sich, diskutierten, lachten... Man sprach über Literatur und Kunst, natürlich nur der allermodernsten Richtungen, über Mode und gesellschaftliches Leben, und erzählte mit Geist und Temperament den neusten Klatsch... So vielfältig die Interessen der Gäste des Hauses waren, so vielfältig waren auch die Richtungen, die sie vertraten. Nur die bürgerliche Rechte oder gar die extreme Rechte schienen nicht dabei zu sein. Parteipolitisch waren überhaupt nur wenige gebunden, und so gab es denn auch kaum Parteibuchkommunisten. Auch Theta Sch. war kein Mitglied der KP, wenn sie auch oft an kommunistischen Demonstrationen und Versammlungen teilnahm. Was diese Menschen untereinander gemeinsam hatten, war vor allem eins: sie waren allem Neuen aufgeschlossen, sie waren modern, sie waren Kinder des Nachkriegsjahrzehnts. Mochte es sich um Politik, Kunst oder Literatur handeln, immer blickten sie mit Horror auf die Beschränktheit einer ihrer Meinung nach rettungslos untergegangenen bürgerlichen Vergangenheit zurück. Man war ein Mensch, also durfte einem nichts Menschliches fremd sein. Diese durch Siegmund Freud und die ungehemmte Aussage der Schriftsteller und Künstler vorbereitete Grundhaltung der zwanziger Jahre herrschte auch im Hause Sch. Alles konnte gesagt werden. Einwände, die etwa erhoben wurden, waren niemals moralischer Natur. Und noch eins verband all diese Menschen: die Sympathie für die Sowjetunion. Natürlich gab es unter ihnen Kritiker an der sowjetischen Politik und an der bolschewistischen Gesellschaftlehre. Doch jeder war bereit, alles, was aus Rußland kam, mit offenen Armen aufzunehmen. Was man auch sein mochte, man legte Wert darauf, „fortschrittlich" zu sein. Und Sowjetrußland war Fortschritt, Morgen, neue Zeit, neue Gesellschaft…In diesem Hause wurde nicht missioniert. Dazu hatte man zuviel Vergnügen am Gespräch. Aber der erwartungsvolle, gespannte Blick gen Osten verband die meisten der Gesprächspartner.
Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrweges, Stuttgart 1957, S.111-114
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