1.2. Rätesystem oder Parlamentarische Demokratie? Nationalversammlung und Weimarer Reichsverfassung
Im Zentrum der innenpolitischen Auseinandersetzung vom November und Dezember 1918 stand die Frage: Demokratie oder Rätesystem? Der liberale Staatsrechtler Hugo Preuß veröffentlichte dazu am 14.11.1918 im Berliner Tageblatt den Artikel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat". Preuß, der im übrigen für ein Zusammengehen von Linksbürgerlichen und Sozialdemokraten eintrat, wurde daraufhin am 15. November von Friedrich Ebert zum Staatssekretär des Innern ernannt.
Hugo Preuß: „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat", 14.11.1918:
Wenige Tage sind seit dem Sturz des alten Obrigkeitssystems in Deutschland erst verstrichen; dieser Umschwung hat sich bisher jedenfalls mit einer Ordnung vollzogen, die für eine Revolution von so ungeheuerlicher Bedeutung erstaunlich und wunderbar ist; - und doch kann man schon immer zahlreichere Stimmen hören, aus denen etwas wie Heimweh nach dem alten Obrigkeitsstaat spricht; und zwar auch von Soldaten, die bisher keineswegs seine Anhänger waren. Das ist psychologisch ebenso begreiflich, wie es politisch unsinnig ist. Denn die Ueberalterung des Obrigkeitsstaates war die Ursache seines Bankrotts und des gegenwärtigen Umsturzes; sie ist aber auch die Ursache, daß an seine Stelle noch keineswegs der Volksstaat getreten ist, sondern ein umgedrehtes Obrigkeitssystem. Im alten Obrigkeitsstaat hatte der Bürger sehr wenig, im gegenwärtigen hat er absolut gar nichts zu sagen; mehr als je vorher ist im Augenblick das Volk in seiner Gesamtheit lediglich ein Objekt einer Regierung, die ihm durch unerforschliche Ratschläge gesetzt wird, nur daß sich diese nicht auf ein Gottesgnadentum berufen, sondern 15 auf eine genau ebenso unfaßliche Volksgnade. Der Rechtstitel ist in einem wie im anderen Falle die Macht, oder vielmehr der Glaube an eine dahinter stehende überlegene Gewalt. Kurz, es ist ganz und gar der umgekehrte Obrigkeitsstaat.
...Für den Lauf, den die Dinge bei uns nehmen werden, wird Haltung und 20 Stimmung des Bürgertums sicherlich von schwerwiegender Bedeutung sein. Dem entsetzlichen Wechsel von rotem und weißem Terror zu entgehen, haben wir nur dann Aussicht, wenn sich eine starke und energische Strömung innerhalb des deutschen Bürgertums entschlossen auf den Boden der vollzogenen Tatsachen stellt, aber nicht willenlos ihr Haupt unter die neue Obrigkeit 25 beugt, wie sie es so lange zum Schaden des deutschen Volkes unter die alte Obrigkeit gebeugt hat; und wenn ihre Mitarbeit in voller und verantwortlicher Gleichberechtigung nicht zurückgewiesen wird. Nicht zum Vortrupp reaktionärer Bestrebungen darf und will sich das Bürgertum hergeben; es will Hand in Hand gehen mit den neuen Mächten, aber nicht als Handlanger, sondern als 30 gleichberechtigter Genosse. Nicht Klassen und Gruppen, nicht Parteien und Stände in gegensätzlicher Isolierung, sondern nur das gesamte deutsche Volk, vertreten durch die aus völlig demokratischen Wahlen hervorgehende deutsche Nationalversammlung, kann den deutschen Volksstaat schaffen. Sie muß ihn baldigst schaffen, wenn nicht unsagbares Unheil unser armes Volk vollends verelenden soll. Gewiß muß eine moderne Demokratie vom Geiste eines kräftigen sozialen Fortschritts erfüllt sein; aber ihre politische Grundlage kann niemals der soziale Klassenkampf, die Unterdrückung einer sozialen Schicht durch die andere bilden, sondern nur die Einheit und Gleichheit aller Volks genossen. Im Rahmen der zu schaffenden demokratischen Verfassung sind die 40 unausbleiblichen sozialpolitischen Kämpfe der Zukunft friedlich auszutragen. Die Stellung zu der konstituierenden Nationalversammlung des deutschen Volksstaates ist zugleich die Stellung zu der Frage: Demokratie oder Bolschewismus.
Zit. nach: Ritter/Miller, Die deutsche Revolution, S. 364ff.
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