LUTHER und EUROPA
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Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 1906.
Die Historikerin Luise Schorn-Schütte zur Position Troeltschs in der protestantischen Reformationsgeschichtsschreibung (2011).
"Die Vorstellung, dass die Reformation das Mittelalter und damit die Autoritätsgläubigkeit des Einzelnen überwunden habe, so dass sich seitdem der Aufbruch in die Neuzeit zielgerichtet vollziehen könne, hat das Selbstverständnis der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung sehr lange geprägt. […]
Scharfe Kritik an dieser Sichtweise kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den eigenen Reihen, durch den Berliner Religionshistoriker und -soziologen Ernst Troeltsch (1865-1923). Anders als die bis dahin dominante Forschung befasste er sich intensiv auch mit den reformatorischen Bewegungen als sozialen Erscheinungen; dazu gehörte nicht zuletzt die Bearbeitung der sogenannten Außenseiter (Täufer, Spiritualisten). Aus diesen verschiedenen Wurzeln entstand, so Troeltsch, die Reformation. Sie war eingebunden in die spätmittelalterliche Autoritätskultur, die „auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbare göttliche Offenbarung [...] in der Erlösungs- und Erziehungsanstalt der Kirche beruht” (Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 1906, S. 5). Die spätmittelalterliche Einheitskultur wird durch die Reformation aufgelöst, in einem modernen Sinne weitergeführt durch den Calvinismus, da nur er die Merkmale der Entkoppelung von Staat und Kirche, von Religion und Politik in der Anerkennung von Gewissens- und Glaubensfreiheit auch für das Individuum aufweisen kann. Das Luthertum aber, wie auch der vom Tridentinum geprägte Katholizismus, blieben der autoritären Einheitskultur des Mittelalters dadurch verbunden, daß sie, wenn auch nur für einen begrenzten Wirkraum, die Verzahnung von Religion und Politik, von Staat und Kirche erneuerten. Damit widersetzten sie sich der Entwicklung zur modernen Welt, die Troeltsch mit der Entwicklung hin zur europäisch-amerikanischen Kultur gleichsetzte, und gingen einen eigenen, im Falle des Luthertums spezifisch deutschen Weg. Die deutsche Moderne begann deshalb erst mit dem Einsetzen der aufklärerischen Forderungen nach Gewissensfreiheit, die im Ergebnis auf die endgültige Trennung von Religion und Politik zielte.
Was für die Reformation insgesamt galt, traf, so Troeltsch, erst recht auf Luther zu. Mit seinen politischen Ordnungsvorstellungen war er dem spätmittelalterlichen patriarchalisch-ständischen Denken zutiefst verhaftet. Das war auf „weltindifferente” Ethik zurückzuführen, „die vom einzelnen Christen nur den Glauben und die unmittelbare Nächstenliebe forderte, die Dinge der Welt aber ihren eigenen Gesetzen, d.h. einem rein positivistisch verstandenen Naturrecht der Macht überlässt” (Bornkamm, Heinrich, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Göttingen 1970, S. 108). Dadurch entstand bei Luther eine doppelte Moral, die den Gegensatz von politischem Handeln und privatem Glauben in den einzelnen Christen hineinverlegte: im politischen Amt musste er anders handeln als im privaten Leben.
Dass diese Deutung bei den protestantischen Zeitgenossen von Troeltsch auf vehemente Kritik stieß, leuchtet ein, wurde doch damit die kirchengeschichtliche Interpretation der Reformation als Beginn der protestantischen Moderne grundsätzlich in Frage gestellt. Mit seiner Reformations- und Lutherdeutung ging es Troeltsch [...] um eine Erneuerung des zeitgenössischen Protestantismus im Sinne einer Erneuerung seiner frömmigkeitsbezogenen und gemeinchristlichen Wurzeln. Die aber lagen nicht im lutherischen Altprotestantismus."
Luise Schorn-Schütte, Die Reformation. Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung, München 5. Aufl. 2001, S. 94-96
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