Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 1906.1
Der nachstehende Bericht über den Vortrag von Ernst Troeltsch auf dem Stuttgarter Historikertag 1906 beruht auf einer von dem Redner autorisierten Zusammenfassung, in der die zentralen Punkte seiner Ausführungen wiedergegeben sind.
Bericht über die neunte Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart. 17. bis 21. April 1906
Am 21. April, Sonnabend, vormittags 9 Uhr sprach Prof. Dr. Troeltsch (Heidelberg) über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt.2
Innerhalb der bald vierhundertjährigen Geschichte des Protestantismus – so führte der Vortragende ungefähr aus — gilt es den Altprotestantismus vom Neuprotestantismus, der den ersteren seit dem 18. Jahrhundert abgelöst hat, zu unterscheiden, und da der Neuprotestantismus selbst einen Teil der modernen Welt bildet, so kommt es vor allem darauf an, die Bedeutung des Altprotestantismus darzustellen. Innerhalb des letzteren sind nicht nur das Luthertum und der Calvinismus zu unterscheiden, sondern vor allem auch die im konfessionellen Staate unterdrückten Richtungen des Wiedertäufertums und der humanistischen Theologie, die beide auf ersteren einen großen Einfluss ausgeübt haben.
Der Protestantismus hat zunächst nur eine neue Antwort auf eine alte von der katholischen Welt erörterte Frage, auf die nach der Heilsgewissheit, gesucht. Er hat grundsätzlich den alten Begriff der Kirche als einer infalliblen [unfehlbaren] und intoleranten Heils- und Erziehungsanstalt durchaus beibehalten, und wenn er auch Mönchtum und Zölibat verwarf, so blieb doch die alte Askese und die alte Lehre von der Nichtigkeit der Welt, die innerlich zu überwinden sei, beibehalten. In Wirklichkeit hatte aber die Neugestaltung des Kirchenwesens die unbeabsichtigte Folge, dass durch die Beseitigung der Alleinherrschaft der katholischen Kirche die Kraft des Kirchentums überhaupt geschwächt wurde, denn drei infallible [unfehlbare], sich gegenseitig verdammende Kirchen mussten der Freigeisterei Vorschub leisten. In diesem Kampfe musste aber der Protestantismus, vermöge seiner sehr viel schwächeren inneren Struktur dem Ansturm der modernen Ideen viel leichter unterliegen als die fester gefügte katholische Kirche.
Im Familienleben behielt der Protestantismus die strenge Unterordnung von Frau und Kindern unter den patriarchalisch-absolutistischen Hausherrn bei, aber das protestantische Pfarrhaus gab zugleich ein einzig dastehendes moralisches Beispiel des Familienlebens.
Im Rechtsleben hat er das alte barbarische Strafrecht nicht geändert, auch den Hexen- und Zauberwahn beibehalten. Das Naturrecht wurde in humanistischen Kreisen entkirchlicht, und die Entstehung des modernen Lebens bedeutet auf dem Gebiete des Rechts geradezu vielfach den Bruch mit den Anschauungen des Altprotestantismus.
Den Staat hat der Protestantismus zwar von der Hierarchie befreit, ihn aber trotzdem als religiöses Institut aufgefasst und keine modernen Staatsideen zugelassen. Der aufgeklärte Absolutismus ist aber doch aus ihm, und zwar hauptsächlich aus dem Luthertum herausgewachsen, wo der Landesherr auch die Kirche kommandierte. Die konservativen Prinzipien im Staatsleben hat vor allem das Luthertum gepflegt, aber in dieser Hinsicht besteht ein großer Unterschied zwischen ihm und dem Calvinismus: jenes vertrat die Unterwerfung der Untertanen unter die Obrigkeit und der unteren Stände unter die oberen, dieser bevorzugte eine aristokratische republikanische Staatsform, lehrte den Widerstand gegen gottlose Obrigkeiten und gegebenfalls sogar den Tyrannenmord. Die eigentliche Demokratisierung der modernen Welt ist eine Frucht des Rationalismus ebenso wie z. T. die Ideen der Menschenrechte und der Gewissensfreiheit. Selbst in Nordamerika gab es zunächst keine Freiheit des Gewissens; nur Pennsylvanien und Rhode Island machten eine Ausnahme, aber hier leben wiedertäuferische Lehren im Quäkertum fort.
Im Wirtschaftsleben war Luthers Auffassung von der Berufssittlichkeit und seine Rechtfertigung des Erwerbslebens schon lange vorher katholische Lehre gewesen; er formulierte diese nur neu und forderte bestimmter, jeder sei seinem Stande zu erhalten und die Obrigkeit habe ihm seine Nahrung zu garantieren. Der Calvinismus dagegen verwarf das Zinsverbot; der Geist des sogenannten Kapitalismus, der den Erwerb nur um des Erwerbes willen kennt und den Menschen zum Sklaven seiner Arbeit macht, ist zu einem guten Teil auf calvinistische Anschauungen zurückzuführen. Gerade die Askese, die Geringschätzung der Weltfreuden, zeitigte eine systematische Arbeit, die Selbstzweck war und Geld anhäufte aus Freude an der Leistung. Den Beweis bieten am besten die puritanischen Schotten, aber ähnliche Wirkungen hat auch der Pietismus gehabt.
In der Wissenschaft hat der Protestantismus die bisherige kirchliche Bewältigung des Wissens, die Scholastik, gestürzt und das Erziehungswesen verstaatlicht. Die wissenschaftliche Kritik und Ehrlichkeit geht in ihren Keimen auf die antikatholische Bibelkritik zurück, obwohl der Protestantismus erst eigentlich die Infallibilitätstheorie [Unfehlbarkeitstheorie] der Bibel begründet hat.
In der Kunst hat der Calvinismus mit seinem Bildersturm und seiner Schmuckfeindlichkeit geschadet, das Luthertum aber in der Musik und religiösen Lyrik neue eigenartige Leistungen hervorgebracht. Der Katholizismus aber blieb der Kunst immer in höherem Grade verwandt. Immerhin hängt Rembrandts Kunst mit dem Protestantismus eng zusammen, denn keine protestantische Richtung hat versucht, die künstlerische Empfindung zu einer Verklärung der Sinnlichkeit zu erheben, und demgemäß sind Klassizismus und Romantik in ihrem innersten Wesen dem Luthertum fremd.
Die direktesten Wirkungen des protestantischen Geistes zeigen sich auf religiös-ethischem Gebiete. Luther setzte das Innewerden der unmittelbaren Heilsgewissheit allein durch den Glauben an die Stelle des katholischen sakramentalen Wunders. Sein Ziel war dabei das gleiche wie das der katholischen Kirche, aber der von ihm eingeschlagene neue Weg wurde allmählich wichtiger als das Ziel selbst, denn er führte, wenn auch erst in längerer Zeit, zu einer Gefühls- und Gewissensreligion ohne dogmatischen Zwang, zu einer autonomen inneren Selbständigkeit des Gewissens, in der das Wesen der modernen Religiösität zu suchen ist. In diesem Punkte berührt sich der Protestantismus mit den Grundpfeilern des modernen Denkens, dem Freiheits- und Persönlichkeitsgefühl. Der protestantische Zug zur Gewissensfreiheit hat im Kampfe, aus dem die moderne Welt hervorgegangen ist, großes geleistet, aber er ist vielleicht auch noch einmal wertvoll im Kampfe gegen Mächte, die nicht auf dem alten Boden entstanden sind, sondern gerade auf die moderne Welt zurückgehen.
Nur die kausalen Zusammenhänge vorzuführen, nicht etwa Werturteile zu fällen, war die Absicht dieser Ausführungen, der [sic!] mit großem Beifall aufgenommen wurde. Als einziger Redner ergriff Prof. Karl Müller (Tübingen) das Wort, um dem Vortragenden den Dank der Versammlung auszusprechen und einige allgemeine Bemerkungen daran zu knüpfen.
1) Der Vortrag ist vollständig im Druck erschienen in der „Historischen Zeitschrift”, 97. Bd. (1906), S. 1 - 66 und auch als selbständige Schrift (München, R. Oldenburg, 1906).
Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe Bd. 8. Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt, Berlin, New York 2001, S. 375-377
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.