LUTHER und EUROPA
-jetzt online bei DigAM-

QUAESTIO DE VIRIBUS ET VOLUNTATE HOMINIS SINE GRATIA DISPUTATA 1516
DISPUTATIONSFRAGE ÜBER DIE KRÄFTE UND DEN WILLEN DES MENSCHEN OHNE GNADE 1516
Disputationen: Unter dem Vorsitz des hervorragenden Mannes Martin Luther, Augustiner, Magister der Freien Künste und der Theologie, wird am nächsten Freitag um 7 Uhr [25.09.1516] über nachstehende Frage disputiert werden: „Ob der Mensch, zum Bilde Gottes erschaffen, aus seinen natürlichen Kräften die Gebote Gottes des Schöpfers halten oder irgendetwas Gutes tun oder denken und sich mit Hilfe der Gnade verdient machen und die Verdienste erkennen kann?”
[…]
ZWEITE THESE
DER MENSCH, AUSGESCHLOSSEN AUS DER GNADE GOTTES, KANN SEINE [GOTTES] VORSCHRIFTEN IN KEINER WEISE HALTEN UND SICH NICHT, SEI ES IM UNEIGENTLICHEN SINN, SEI ES IM EIGENTLICHEN SINN, FÜR DIE GNADE VORBEREITEN, SONDERN BLEIBT NOTWENDIGERWEISE UNTER DER SÜNDE.
Der erste Teil der These ergibt sich aus jenem [Wort] des Apostels [Paulus] Röm 8 [richtig: Röm 13]: „Die Erfüllung des Gesetzes ist die Liebe”, „das Wissen bläht auf, die Liebe aber baut auf'. Ebenso: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.” Wo St. Augustinus diese Worte behandelt, sagt er: „Die Schrift des Gesetzes [richtig: Das Wissen vom Gesetz] ohne Liebe bläht auf, baut nicht auf.” Und wenig später: „Die Erkenntnis des Gesetzes macht deshalb einen hochmütigen Pflichtverletzer, durch die Gabe der Liebe aber findet er Gefallen daran, ein Täter des Gesetzes zu sein.” Und an vielen Stellen sagt er: „Das Gesetz ist gegeben, damit die Gnade gesucht werde, die Gnade ist gegeben, damit das Gesetz erfüllt werde.”
Den anderen Teil zeigt St. Augustinus an vielen Stellen auf. Es wird genug sein, nur einige anzuführen. Joh 15: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.” Desgleichen: „Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht von meinem Vater gegeben wird.” Der Apostel [Paulus sagt] 1Kor 4: „Was hast du denn, das du nicht empfangen hast?” Und durch viele andere [Stellen] des Neuen und Alten Testaments wird schlüssig so gelehrt, am meisten durch den Propheten Hesekiel, wo Gott geradezu sagt, er lasse sich durch keine guten Verdienste der Menschen veranlassen, sie gut zu machen, als gehorchten sie seinen Geboten; sondern vielmehr vergelte er ihnen Gutes für Böses und tue dies um seiner selbst willen, nicht um ihretwillen. Er sagt nämlich: „Das sagt der Herr dein Gott: ,Das werde ich dem Haus Israel um meines heiligen Namens willen tun, den ihr entheiligt habt unter den Heiden'.” Und nach vielen Worten des Propheten folgt: „Nicht euretwegen tue ich das, spricht Gott der Herr, damit ihr es nur wisst.” Aus diesen [Aussagen] allen [folgert] St. Augustinus, der Verteidiger der Gnade, zusammen mit dem heiligsten Apostel, dem Prediger der Gnade, dass es nicht an des Menschen Wollen und Laufen liege, sondern am Erbarmen GOTTES, der Strafe nur auferlegt, wenn sie verdient ist, Erbarmen hingegen nur, wenn es unverdient ist. Folglich werden Verdienste, die der Gnade vorangehen, hinfällig und nichts sein. Notwendigerweise bleibt also der Mensch ohne Gnade ein Sohn des Zornes, weil es allein die Söhne GOTTES sind, die vom Geist GOTTES getrieben werden.
ERSTER ZUSATZ
DER WILLE DES MENSCHEN, OHNE DIE GNADE, IST NICHT FREI, SONDERN DIENT ALS KNECHT, FREILICH NICHT WIDER WILLEN.
Das ergibt sich aus jenem [Wort] Röm 7 [richtig: Joh 8]: „Jeder, der Sünde tut, ist ein Knecht der Sünde.” Der Wille ohne Gnade sündigt, ist also nicht frei. Das ergibt sich auch aus dem Wort des Heiligen Evangelisten, wo Christus sagt: „Wenn euch der Sohn frei macht, werdet ihr wirklich frei sein.” Daher sagt Augustinus: „Was gibst du ein freies Willensvermögen vor, das zum Tun der Gerechtigkeit nicht frei sein wird, wenn du nicht ein ,Schaf` geworden bist? Wer also die Menschen zu ,Schafen` macht, der befreit auch die menschlichen Willen zum Gehorsam der Gottesfurcht.” Dennoch dient er nicht wider Willen, sondern willentlich als Knecht. Das ergibt sich auch durch Augustinus' Buch 1 gegen die Pelagianer, wo er sagt: „Er wird nicht frei zum Guten sein, weil die Befreiung [ihn] nicht befreit hat, sondern zum Bösen hat er ein freies Willensvermögen, zur Freude an der Schlechtigkeit, wenn er, sei es heimlich, sei es öffentlich, durch Verführung dienstbar wird oder wenn er sich selbst dazu überredet hat.” Im 2. Buch gegen Julianus [sagt] Augustinus: „Ihr wollt, dass der Mensch vollkommen werde - ach, dass [ihr es wolltet] durch die Gabe Gottes und nicht durch das freie - richtiger: geknechtete - Entscheidungsvermögen des Willens!”
ZWEITER ZUSATZ
WENN DER MENSCH TUT,.WOZU ER IN DER LAGE IST, SÜNDIGT ER, DA ER AUS SICH SELBST [GUTES] WEDER WOLLEN NOCH DENKEN KANN.
Der Zusatz ergibt sich, „weil ein schlechter Baum nur schlechte Früchte hervorbringen oder machen kann”, Mt 7. Wenn die Gnade ausgeschlossen ist, ist der Mensch aber, wie St. Augustinus an vielen Stellen [sagt], ein schlechter Baum. Folglich, was er auch tut - er gebrauche seine Vernunft auf beliebige Weise, er bringe Handlungen hervor, befehle und tue Handlungen - ohne den Glauben, der durch die Liebe wirkt, sündigt er immer.
[…]
Martin Luther. Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bd. 1, Leipzig 2006, S. 5-11 [WA 1,145/StA 1,1551]
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.