Martin Luther, VON DER FREIHEIT EINES CHRISTENMENSCHEN, 1520
Jesus. Zum ersten: Damit wir gründlich erkennen können, was ein Christenmensch sei und wie es um die Freiheit beschaffen sei, die ihm Christus erworben und gegeben hat, davon Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Leitsätze aufstellen:
- Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.
- Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Diese zwei Leitsätze sind klar: Paulus, 1. Kor. 9, 19: »Ich bin frei von jedermann und habe mich eines jedermanns Knecht gemacht«, ebenso Röm. 13, 8: »Seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebet.« Liebe aber, die ist dienstbar und untertan dem, was sie lieb hat. So (heißt es) auch von Christus, Gal. 4, 4: »Gott hat seinen Sohn gesandt, von einem Weibe geboren, und dem Gesetz untertan gemacht. «
Zum zweiten: Um diese zwei sich widersprechenden Reden von der Freiheit und von der Dienstbarkeit zu verstehen, sollen wir daran denken, dass ein jeglicher Christenmensch von zweierlei Natur ist: geistlicher und leiblicher. Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerlicher Mensch genannt, nach dem Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerlicher Mensch genannt. Und um dieses Unterschiedes willen werden von ihm in der Schrift Dinge ausgesagt, die da stracks widereinander sind, wie ich jetzt von der Freiheit und der Dienstbarkeit geredet habe.
Zum dritten: So wir uns den inwendigen, geistlichen Menschen vornehmen, um zu sehen, was dazu gehöre, dass er ein frommer, freier Christenmensch sei und heiße, so ists offenbar, dass ihn kein äußerliches Ding frei noch fromm machen kann, wie es auch immer genannt werden mag. Denn seine Frömmigkeit und Freiheit und umgekehrt seine Bosheit und Gefängnis sind nicht leiblich noch äußerlich. Was hilfts der Seele, dass der Leib ungefangen, frisch und gesund ist, isset, trinkt; lebt wie er will? Umgekehrt: was schadet das der Seele, dass der Leib gefangen, krank und matt ist, hungert, dürstet und leidet, wie er nicht gern wollte? Dieser Dinge reichet keines bis an die Seele, sie zu befreien oder zu fangen, fromm oder böse zu machen. […]
Zum achten: Wie geht es aber zu, dass der Glaube allein fromm machen und ohne alle Werke so überschwenglichen Reichtum geben kann, obwohl uns doch in der Schrift so viele Gesetze, Gebote, Werke, Stände und Weisen vor-geschrieben sind? Hier ist fleißig zu merken und ja mit Ernst zu behalten, dass allein der Glaube ohne alle Werke fromm, frei und selig machet, wie wir hernach mehr hören werden, und ist zu wissen, dass die ganze heilige Schrift in zweierlei Wort geteilt wird, welche sind: Gebote oder Gesetze Gottes und Verheißungen oder Zusagen. Die Gebote lehren und schreiben uns mancherlei gute Werke vor, aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht, lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu geordnet, dass der Mensch darinnen sein Unvermögen zu dem Guten sehe und an sich selbst verzweifeln lerne. Und darum heißen sie auch das alte Testament und gehören alle ins Alte Testament. Wie das Gebot: »Du sollst nicht böse Begierde haben« beweist, dass wir allesamt Sünder sind und kein Mensch ohne böse Begierde zu sein vermag, er tue, was er will. Daraus lernet er an sich selbst verzagen und anders-wo Hilfe zu suchen, dass er ohne böse Begierde sei und so das Gebot durch einen andern erfülle, was er aus sich selbst nicht vermag. Ebenso sind auch alle andern Gebote uns (zu erfüllen) unmöglich.
Zum neunten: Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, dass ihm nun angst wird, wie er dem Gebot Genüge tue (sintemal das Gebot erfüllet werden muss oder er muss verdammt sein), so ist er recht gedemütigt und in seinen Augen zunichte geworden, findet nichts in sich, damit er könne fromm werden. Dann kommt das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusagung, und spricht: Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde los werden, wie die Gebote erzwingen und fordern, siehe da, glaube an Christus, in welchem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zusage. Glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht. Denn was dir mit allen Werken der Gebote unmöglich ist, deren viele sind und von denen doch keines nütze sein kann, das wird dir durch den Glauben leicht und kurz. Denn ich habe in Kürze alle Dinge in den Glauben gestellt, dass, wer ihn hat, soll alle Dinge haben und selig sein; wer ihn nicht hat, soll nichts haben. So geben die Zusagungen Gottes, was die Gebote fordern, und vollbringen, was die Gebote befehlen, auf dass es alles Gottes eigen sei: Gebot und Erfüllung. Er befiehlt allein, er erfüllet auch allein. Darum sind die Zusagungen Gottes Wort des neuen Testaments und gehören auch ins Neue Testament.
Zum zehnten: Nun sind diese und alle Gottesworte heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam, frei und aller Güte voll. Darum: wer ihnen mit einem rechten Glauben an-hängt, des Seele wird mit ihm so ganz und gar vereinigt, dass alle Tugenden des Wortes auch der Seele eigen wer-den und durch den Glauben die Seele so durch das Gotteswort heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und aller Güte voll, ein wahrhaftiges Kind Gottes wird, wie Joh. 1, 12 sagt: »Er hat ihnen Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden, die an seinem Namen glauben.«
Hieraus ist leicht zu verstehen, warum der Glaube so viel vermag und dass keine guten Werke ihm gleich sein können. Denn kein gutes Werk hänget (so) an dem göttlichen Wort wie der Glaube, kann auch nicht in der Seele sein; sondern allein das Wort und der Glaube regieren in der Seele. Wie das Wort ist, so wird auch die Seele von ihm, gleichwie das Eisen aus der Vereinigung mit dem Feuer glutrot wie das Feuer wird. So sehen wir, dass ein Christenmensch an dem Glauben genug hat; er bedarf keines Werkes, dass er fromm sei. Bedarf er denn keines Werkes mehr, so ist er gewisslich von allen Geboten und Gesetzen entbunden; ist er entbunden, so ist er gewisslich frei. Das ist die christliche Freiheit, der einzige Glaube, der da macht, nicht dass wir müßig gehn oder übel tun können, sondern dass wir keines Werkes bedürfen, zur Frömmigkeit und Seligkeit zu gelangen, wovon wir her-nach mehr sagen wollen. […]
Zum neunzehnten: Das sei nun genug gesagt von dem innerlichen Menschen, von seiner Freiheit und der Hauptgerechtigkeit, welche keines Gesetzes noch guten Werkes bedarf; ja, ihr ist es schädlich, so jemand dadurch wollte gerechtfertigt zu werden sich vermessen. Nun kommen wir aufs andere Teil, auf den äußerlichen Menschen. Hier wollen wir allen denen antworten, die sich an den vorigen Reden ärgern und zu sprechen pflegen: Ei, so denn der Glaube alle Dinge ist und allein genug gilt, um fromm zu machen, warum sind denn die guten Werke geboten? So wollen wir guter Dinge sein und nichts tun! Nein, lieber Mensch, nicht so! Es wäre wohl so, wenn du allein ein innerlicher Mensch wärest und ganz geistlich und innerlich geworden, welches bis am Jüngsten Tag nicht geschieht. Es ist und bleibt auf Erden nur ein Anheben und Zunehmen, welches in jener Welt zu Ende gebracht wird. Daher nennts der Apostel (Röm. 8, 23) primitias spiritus, d. h. die ersten Früchte des Geistes; darum gehört hierher, was droben gesagt ist: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan, d. h. sofern er frei ist, braucht er nichts zu tun; sofern er Knecht ist, muss er allerlei tun. Wie das zugehe, wollen wir sehen.
Zum zwanzigsten: Obwohl der Mensch inwendig nach der Seele durch den Glauben genügend gerechtfertigt ist und alles hat, was er haben soll, außer dass dieser Glaube und dieses Genügen immer zunehmen muss bis in jenes Leben, so bleibt er doch noch in diesem leiblichen Leben auf Erden und muss seinen eigenen Leib regieren und mit Menschen umgehen. Da heben sich nun die Werke an. Hier darf er nicht müßig gehen, da muss fürwahr der Leib mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßigen Zucht getrieben und geübt sein, dass er dem innerlichen Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere noch ihm widerstrebe, wie seine Art ist, wo er nicht gezwungen wird. […]
Zum dreiundzwanzigsten: Drum sind die zwei Sprüche wahr: Gute, fromme Werke machen nimmermehr einen guten, frommen Mann, sondern ein guter, frommer Mann macht gute, fromme Werke und: Böse Werke machen nimmermehr einen bösen Mann, sondern ein böser Mann macht böse Werke. Es ist so, dass stets die Person zuvor, vor allen guten Werken gut und fromm sein muss und die guten Werke von der frommen, guten Person folgen und aus-gehen, gleichwie Christus (Matth. 7, 18) sagt: »Ein böser Baum trägt keine gute Frucht, ein guter Baum trägt keine böse Frucht.« Nun ists offenbar, dass die Früchte nicht den Baum tragen, ebenso wachsen auch die Bäume nicht auf den Früchten, sondern umgekehrt: die Bäume tragen die Früchte, und die Früchte wachsen auf den Bäumen. Wie nun die Bäume früher sein müssen als die Früchte und die Früchte die Bäume weder gut noch böse machen, sondern die Bäume machen die Früchte: so muss der Mensch selbst zuvor fromm oder böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut. Und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er macht gute oder böse Werke. Das gleiche sehen wir in allen Handwerken. Ein gutes oder schlechtes Haus macht keinen guten oder schlechten Zimmermann, sondern ein guter oder schlechter Zimmermann macht ein schlechtes oder gutes Haus. Kein Werk macht einen Meister danach wie das Werk ist, sondern wie der Meister ist, danach ist auch sein Werk. So sind die Werke des Menschen auch: wie es mit ihm im Glauben oder Unglauben steht, da-nach sind seine Werke gut oder böse, und nicht umgekehrt: wie seine Werke stehen, danach sei er fromm oder gläubig. Die Werke, wie sie nicht gläubig machen, so machen sie auch nicht fromm. Aber wie der Glaube fromm macht, macht er auch gute Werke. So denn die Werke niemand fromm machen und der Mensch zuvor fromm sein muss, ehe er wirkt, so ist offenbar, dass allein der Glaube aus lauterer Gnade, durch Christus und sein Wort, die Person genugsam fromm und selig macht und dass kein Werk, kein Gebot einem Christen zur Seligkeit not sei. Sondern er ist frei von allen Geboten und tut alles aus lauterer Freiheit umsonst, was er tut. Er sucht in nichts damit seinen Nutzen oder Seligkeit, denn er ist durch seinen Glauben und Gottes Gnade schon satt und selig, sondern nur, Gott darin zu gefallen. […]
Zum dreißigsten: Aus dem allen folgt der Beschluss: ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fähret er über sich in Gott, aus Gott fähret er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe, gleich wie Christus Joh. 1, 51 sagt: »Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf des Menschen Sohn.«
Siehe, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Gott gebe uns, das recht zu verstehen und zu behalten! Amen.
Textzusammenstellung von Reinhard Neebe. In Auszügen - mit Anpassung der Rechtschreibung- zitiert nach Kurt Aland, Luther Deutsch, Bd. 2, Göttingen 1981, S. 251-274
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