LUTHER und EUROPA
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Luther an Spalatin, Kritik an Erasmus, 19. Oktober 1516
Was mir an Erasmus, dem hochgelehrten Manne, nicht gefällt, ist dies, lieber Spalatin, dass er bei Erklärung des Apostels (Paulus) unter Gerechtigkeit der Werke, bzw. des Gesetzes, bzw. der eigenen Gerechtigkeit (so nennt sie nämlich der Apostel) die Beobachtung der Zeremonial- und formalen Gesetze versteht. Ferner behauptet er auch, der Apostel wolle von der Erbsünde (die er allerdings zugibt) Römer 5 nicht deutlich reden. Wenn er die Werke Augustins lesen würde, die er gegen die Pelagianer geschrieben hat [...] und sehen würde, dass dieser nichts aus eigener Weisheit, sondern aus der der hervorragendsten Väter schöpft [...], so würde er vielleicht nicht nur den Apostel richtig verstehen, sondern auch einsehen, dass Augustin einer höheren Wertschätzung würdig sei, als er bisher geglaubt hat.
Ich trage keine Bedenken, von Erasmus darin abzuweichen, dass ich Hieronymus dem Augustin, was die Auslegung der Schrift angeht, so weit hintanstelle, wie er den Augustin überall dem Hieronymus hintanstellt. Nicht dass ich aus Eifer für meinen Orden Augustin zu loben veranlasst wäre, welcher, ehe ich über seine Werke geriet, nicht das geringste Ansehen bei mir hatte; sondern weil ich sehe, dass Hieronymus auf ein historisches Verständnis hinauswill, und, worüber man sich noch mehr wundern muss, die Schrift zutreffender erklärt, wenn er kurz darüber hingeht, wie zum Beispiel in Briefen, als wenn er sie eindringlich behandelt, wie in seinen Werken.
Auf keine Weise besteht demnach die Gerechtigkeit des Gesetzes oder der Werke bloß in Zeremonien, sondern vielmehr richtiger in den Werken der ganzen Zehn Gebote. Wenn diese ohne den Glauben an Christus vollbracht werden, so schmecken sie, wenn sie gleich [...] überaus rechtschaffene Leute vor den Menschen machen, dennoch nicht mehr nach der Gerechtigkeit, als die Vogelbeeren nach Feigen. Denn nicht, wie Aristoteles meint, werden wir dadurch gerecht, dass wir gerecht handeln, auch nicht durch Heuchelei, sondern (um es so zu sagen) durch Gerechtwerden und -sein tun wir gerechte Werke. Erst muss man sich selbst ändern, danach (folgen) die Werke. Zuerst ist Abel vor Gott angenehm, danach sein Opfer. Aber darüber ein ander Mal.
[*] Bitte, erweise mir als Freund und Christ den Gefallen und benachrichtige den Erasmus davon, von dessen Ansehen ich hoffe und wünsche, dass es recht allgemein werden möge. Aber ich fürchte, dass viele ihn zum Patron einer blos buchstäblichen, innerlich toten Auffassung der Schriftworte machen. Denn du könntest mich dreist nennen, weil ich an so grossen Männern Kritik übe, wenn du nicht wüsstest, dass es mir um die Theologie und das Heil der Brüder zu tun ist. [...]
Spalatin richtete am 11. Dezember 1516 einen entsprechenden Brief an Erasmus, in dem er die Wünsche und Bedenken Luthers fast wörtlich mitteilte. Eine Antwort des Erasmus ist nicht erhalten. Der direkten Schriftwechsel mit Erasmus eröffnete Luther erst mit seinem Brief vom 28. März 1519.
Zusammengestellt nach Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch, Bd. 10, S. 17-18 [WA Briefe 1, 70. Nr. 27. Lateinisch] sowie Max Richter, Desiderius Erasmus und seine Stellung zu Luther, Leipzig 1907, S. 6, ab [*]
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