Erasmus an Luther, Wertung der Reformation Luthers, 30. Mai 1519
Durch Vermittlung des Wolfgang Capito (1478—1541) schrieb Luther seinen ersten Brief an Erasmus, der damals noch in Löwen war (28. März 1519 hier). Luther feierte ihn als »unsere Zierde und Hoffnung«, als den Lehrer aller, die die Wissenschaft lieben, gratulierte ihm, dass auch er Angriffen bestimmter Leute ausgesetzt war, und dankte ihm, dass er seine Ablassthesen nicht nur kenne, sondern auch billige, wie das Vorwort zur Neuausgabe des >Enchiridion< zeige. Erasmus antwortete am 30. Mai diplomatisch und doch vielsagend, durch Ratschläge die Distanz erhellend, welche nunmehr nur zunehmen sollte.
Herzlichen Gruß, in Christus geliebtester Bruder. Dein Brief war mir sehr willkommen, er verriet Schärfe des Geistes und ein christliches Herz. Mit Worten könnte ich nicht sagen, welchen Sturm Deine Bücher hier hervorgerufen haben. Noch immer lässt sich der vollkommen falsche Verdacht nicht ausrotten, dass man meint, Deine Schriften seien mit meiner Hilfe geschrieben, ich sei der Bannerträger dieser Partei, wie sie sagen. Sie glaubten eine Handhabe bekommen zu haben, die guten Wissenschaften [bonae literae] zu unterdrücken, die sie von Grund auf hassen als Verdunkelung der theologischen Majestät, die sie viel höher schätzen als Christus, und zugleich mich zu unterdrücken, dem sie einige Bedeutung für die Belebung der Studien beimessen. Die ganze Sache ging in Schreierei, Unverfrorenheit, Ränken, Eifersüchteleien, Verleumdungen vor sich; hätte ich es nicht selbst gesehen, ja, gefühlt, ich würde nie einem Menschen geglaubt haben, dass die Theologen so den Verstand verloren haben. Man möchte von einer verhängnisvollen Pest sprechen. Und doch hat sich das Gift dieses Übels von den wenigen, bei denen es anfing, auf mehrere heimlich weiter verbreitet, so dass ein großer Teil der hiesigen Universität von der Ansteckung durch diese nicht seltene Krankheit besessen scheint.
Ich habe bezeugt, dass Du mir völlig unbekannt bist, ich Deine Bücher noch nicht gelesen habe; infolgedessen missbillige und billige ich nichts. Nur habe ich gemahnt, man solle nicht, ohne Deine Bücher gelesen zu haben, so gehässig vor dem Volke schreien; das Urteilen über Deine Schriften sei Sache derer, auf deren Urteil man größten Wert legen müsse. Man solle auch erwägen, ob es gut sei, vor dem gewöhnlichen Volke Dinge preiszugeben, die besser in Büchern widerlegt oder zwischen Gebildeten disputiert werden, zumal man einstimmig das Leben des Verfassers rühme. – Nichts habe ich erreicht; bis auf den heutigen Tag sind sie besessen von ihren zweideutigen, ja berüchtigten Disputationen. Wie oft haben wir uns friedlich geeinigt! Wie oft haben jene aus einem unüberlegt aufgegriffenen kleinen Verdacht neue Unruhen erregt! Und das wollen Theologen sein! Die Theologen sind hier bei Hofe verhasst; auch das setzen sie auf mein Konto. Die Bischöfe sind mir sämtlich sehr gewogen. Auf Bücher geben jene nichts, nur von Verleumdungen erhoffen sie Sieg. Die verachte ich, im Vertrauen auf mein gutes Gewissen. Dir gegenüber werden sie etwas milder. Bei mir fürchten sie die Feder, denn sie haben ein schlechtes Gewissen; ich würde sie so darstellen, wie sie es verdienen, wenn nicht Christi Lehre und Beispiel mir anderes geböten. Wilde Tiere werden zahm durch Freundlichkeiten, jene werden durch Wohltaten wild.
In England gibt es einige – und zwar sehr Hochstehende – die von Deinen Schriften die beste Meinung haben. Auch hier hast Du Freunde, darunter den Bischof von Lüttich. Soviel wie möglich halte ich mich neutral, um desto mehr dem Wieder-aufblühen der Wissenschaft [bonis literis reflorescentibus] nützlich zu sein. Meines Erachtens kommt man mit bescheidenem Anstand [modestia] weiter als mit Sturm und Drang. Auf diese Weise hat Christus sich die Welt unterworfen. Auf diese Weise hat Paulus das jüdische Gesetz abgeschafft, indem er alles allegorisch deutete. Es empfiehlt sich mehr, laut gegen die aufzutreten, die die päpstliche Autorität missbrauchen, als gegen die Päpste selbst; ich glaube, so muss man es auch bei den Königen machen. Die Universitäten soll man nicht verwerfen, als vielmehr zu vernünftigeren Studien zurückrufen. Bei Dingen, die so fest eingewurzelt sind, dass man sie nicht plötzlich aus den Herzen reißen kann, muss man lieber mit beständigen und wirksamen Argumenten disputieren, als endgültige Behauptungen aufstellen [asseverandum]. Giftige Streitereien gewisser Leute sollte man mehr verachten als widerlegen. Immer muss man sich davor hüten, anmaßend oder parteiisch zu reden oder zu handeln; so, glaube ich, ist es dem Geiste Christi angenehm. Inzwischen muss man sich ein Herz bewahren, das durch Zorn oder Hass oder Ruhm nicht verdorben werden kann, denn mitten im Streben nach Frömmigkeit drohen Fußangeln.
So mahne ich nicht, dass Du nach meinen Grundsätzen handelst, vielmehr dass Du bei Deinem Handeln beständig bleibst. Ich habe von Deinem Psalmenkommentar etwas gelesen; er gefällt mir sehr und wird hoffentlich großen Nutzen schaffen. Der Prior des Augustinerklosters in Antwerpen, ein Christ ohne Falsch, der Dich ganz besonders liebt, einst Dein Schüler, wie er sagt [Jakob Propst (1486-1562)], predigt fast als einziger von allen Christus, die übrigen predigen nahezu nur Menschenfabeln oder zu eigenem Nutzen. An Melanchthon habe ich geschrieben [22. April]. Der Herr Jesus möge Dir täglich mehr von seinem Geiste mitteilen, zu seiner Ehre und zum allgemeinen Nutzen! Während ich dies schrieb, hatte ich Deinen Brief nicht zur Hand.
Heiko A. Oberman, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Bd. III. Die Kirche im Zeitalter der Reformation, 3. verb. Aufl. 1988, Neukirchen -Vluyn 1988, S. 39-41
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