Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt.
Vortrag1), gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21. April 1906
von Ernst Troeltsch.
I.
[…] Die moderne Kultur ist hervorgegangen aus dem großen Zeitalter der kirchlichen Kultur, die auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbare göttliche Offenbarung und auf der Organisation dieser Offenbarung in der Erlösungs- und Erziehungsanstalt der Kirche beruhte. Nichts ist mit der Macht eines solchen Glaubens zu vergleichen, wenn der Glaube wirklich naturwüchsig und selbstverständlich ist. Dann ist überall Gott, sein unmittelbarer, genau erkennbarer und von einem unfehlbaren Institut getragener Wille gegenwärtig. Dann kommt alle Kraft zu höherer Leistung und alle Sicherung des letzten Lebenszieles aus dieser Offenbarung und aus ihrer Organisation in der Kirche. Mit der Schöpfung dieses gewaltigen Baues hat die Antike unter der entscheidenden Einwirkung des Christentums geendet, und dieser Bau ist das Zentrum der ganzen sog. mittelalterlichen Kultur. […] Es ist eine Autoritätskultur im höchsten Grade […]
An diesem Gegensatze [zur mittelalterlichen] erhellt nun das Wesen der modernen Kultur. Sie ist überall die Bekämpfung der kirchlichen Kultur und deren Ersetzung durch a u t o n o m erzeugte Kulturideen, deren Geltung aus ihrer überzeugenden Kraft, aus ihrer immanenten und persönlich wirkenden Eindruckskraft folgt. Die wie immer begründete Autonomie im Gegensatz gegen die kirchliche Autorität, gegen rein äußere und unmittelbare göttliche Normen, beherrscht alles. Auch wo man neue Autoritäten prinzipiell aufrichtet oder tatsächlich befolgt, wird doch deren Geltung selbst auf rein autonome und rationale Überzeugung begründet, und auch wo die religiösen Überzeugungen bestehen bleiben, wird doch ihre Wahrheit und verpflichtende Kraft zuerst auf eine innere persönliche Überzeugung und nicht auf die herrschende Autorität als solche begründet. Die unmittelbare Folge einer solchen Autonomie ist aber notwendig ein immer gesteigerter Individualismus der Überzeugungen, Meinungen, Theorien und praktischen Zielsetzungen. […]
Ein großer Teil der Grundlagen der modernen Welt in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ist völlig unabhängig vom Protestantismus entstanden, teils einfach Fortsetzung spätmittelalterlicher Entwicklungen, teils Wirkung der Renaissance und besonders auch der vom Protestantismus angeeigneten Renaissance, teils in den katholischen Nationen wie Spanien, Osterreich, Italien und besonders Frankreich nach Entstehung des Protestantismus und neben ihm erworben worden. Gleichwohl ist seine große Bedeutung für die Entstehung der modernen Welt ganz offenbar nicht zu bestreiten. Die große Frage ist nur, worin nun im einzelnen wirklich diese Bedeutung besteht. […]
II.
[...] Der alte, echte Protestantismus des Luthertums und des Calvinismus ist durchaus im Sinne des Mittelalters kirchliche Kultur, will Staat und Gesellschaft, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Recht nach den supranaturalen Maßstäben der Offenbarung ordnen und gliedert wie das Mittelalter überall die Lex naturae als ursprünglich mit dem Gottesgesetz identisch sich ein. Der moderne Protestantismus seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ist dagegen überall auf den Boden des paritätischen oder gar toleranten Staates übergetreten und hat die religiöse Organisation und Gemeinschaftsbildung im Prinzip auf die Freiwilligkeit und persönliche Oberzeugung übertragen unter grundsätzlicher Anerkennung der Mehrheit und Möglichkeit verschiedener religiöser Überzeugungen und Gemeinschaften nebeneinander. […]
Wird aber das im Auge behalten, so ist für jede rein historische Betrachtung und insbesondere für unsere Fragstellung Alt- und Neuprotestantismus wohl zu unterscheiden. Der Altprotestantismus fällt unter den Begriff der streng kirchlich supranaturalen Kultur, die auf einer unmittelbaren und streng abgrenzbaren, vom Weltlichen zu unterscheidenden Autorität beruht, und sucht geradezu mit seinen Methoden diese Tendenz der mittelalterlichen Kultur strenger, innerlicher, persönlicher durchzusetzen, als dies dem hierarchischen Institut des Mittelalters möglich war. Die Autorität und Heilskraft der reinen Bibel soll durchsetzen, was den Bischöfen und dem Papste bei der Äußerlichkeit ihrer Mittel und bei der starken Verweltlichung der Institution nicht erreichbar war.
Wenn nun aber das deutlich erkannt ist, dann trennt sich der Altprotestantismus auch deutlich von denjenigen historischen Gebilden, die neben ihm hergehen und die der Neuprotestantismus mehr oder minder in sich aufgenommen hat, oft bis zur Ununterscheidbarkeit, die aber von jenem innerlich tief unterschieden waren und ihre eigene historische Wirkung hatten, nämlich von der humanistischen, historisch-philologisch-philosophischen Theologie und dem Täufertum und Spiritualismus.
Der Altprotestantismus hat sich von beiden scharf und mit blutiger Gewalttätigkeit unterschieden, nicht aus kurzsichtiger Leidenschaft oder theologischer Rechthaberei oder aus Opportunismus oder aus epigonenhafter Engherzigkeit. Er hat sich in allen Führern wie Luther, Zwingli und Calvin von Anfang an innerlich und wesentlich von ihnen geschieden, und zwar deshalb, weil von beiden die Idee der kirchlichen Kultur und die absolute Gegebenheit der Offenbarungsgrundlage einer solchen Kultur trotz aller prinzipiellen Christlichkeit geleugnet wird. Gerade ihr Rückzug auf kleine, fromme Kreise, ihre Fernhaltung vom Staat und ihr Verzicht auf religiösen Zwang war gegen die Idee der Reformatoren, die wie der Katholizismus eine Offenbarung, die nicht alles Menschliche dem Göttlichen unterwirft, für keine wahre Offenbarung halten konnten. Die Objektivität des Kircheninstituts, die Sicherheit der Bibel und die klare staatlich-kirchliche Leitung der Gesellschaft oder des einheitlichen corpus Christianum, das jede Kirche wenigstens auf dem ihr durch die Landesregierung erreichbaren Gebiete herstellte, wurde durch jene bedroht. Erst als der Neuprotestantismus die Idee der kirchlichen Gesamtkultur aus den Augen verloren hatte, konnte er die Gewissensforderung der historisch-philologischen Kritik und die Offenbarungslehre der inneren persönlichen Überzeugung und Erleuchtung als genuin protestantische Prinzipien bezeichnen, während der echte Protestantismus das alles mit den Kategorien des „Naturalismus” einerseits und des „Fanatismus” oder „Enthusiasmus” anderseits belegte und heute noch in seinen Resten bei teilweiser Anerkennung dieser Häresien um so leidenschaftlicher ihren Geist bekämpft. […]
III.
Stehen aber die Dinge so, dann liegt auf der Hand, daß die in Frage stehende Bedeutung des Protestantismus überhaupt nichts Einfaches ist. Aus der kirchlichen Kultur des Protestantismus kann kein direkter Weg in die kirchenfreie moderne Kultur führen. Seine im allgemeinen offenkundige Bedeutung hierfür muss vielfach eine indirekte oder gar eine ungewollte sein, und das Gemeinsame, das trotzdem beide verbindet, muß sehr tief in den verborgenen und nicht unmittelbar bewußten Tiefen seines Gedankens liegen. Darin liegt geradezu der eigentliche Reiz des Problems, und um diesen verständlich zu machen, muß zunächst der Gegensatz des Protestantismus gegen die moderne Kultur noch schärfer bezeichnet werden.
Das Wichtigste ist, daß religions- und dogmengeschichtlich angesehen der Protestantismus nur eine Umbildung des Katholizismus ist, eine Fortsetzung katholischer Fragestellungen, denen nur eine neue Antwort zuteil wird. Erst nach und nach haben sich aus dieser neuen Antwort die radikalen religionsgeschichtlichen Konsequenzen entwickelt, erst bei einem Bruch mit der ersten Gestalt des Protestantismus zeigte sich die weit über eine neue Beantwortung alter Fragen hinausgehende Konsequenz. […] Der Protestantismus beantwortet zunächst nur die alte Frage nach der H e i l s g e w i ß h ei t, die die Existenz Gottes und sein ethisch-persönliches Wesen überhaupt voraussetzt und nur die Not zum Problem macht, wie angesichts der Verdammung aller zur Hölle durch die Erbsünde und angesichts der Schwäche oder Nichtigkeit aller menschlich-kreatürlichen Kräfte die Rettung aus dem Sündengericht, die ewige Seligkeit und ein gleichmäßiger, hoffnungssicherer Friede des Herzens auf Erden erlangt werden könne. Es ist durch und durch die alte Frage, die durch die Erziehung des Katholizismus immer tiefer und eindrucksvoller in die Herzen geschrieben worden war.
[…] Die Prädestinationslehre wird protestantische Zentrallehre im Interesse der Heilsgewißheit, bei Luther, Zwingli und Calvin gleich ursprünglich und gleich notwendig. Der Calvinismus hat dann allerdings diese Lehre zunehmend zum Angelpunkt seines Systems gemacht und in seinen großen Weltkämpfen daraus die feste Kraft des Erwählungsbewußtseins geschöpft, hat aber dafür freilich auch die Rationalität und universale Güte im Gottesbegriff geopfert, während das Luthertum zum Schutze beider Interessen zunehmend den Prädestinationsgedanken abgeschwächt, damit seinem Gedanken aber auch das Heroische und Eherne genommen hat. Der Prädestinierte fühlt sich als der berufene Herr der Welt, der in der Kraft Gottes zur Ehre Gottes in die Welt eingreifen und sie gestalten soll. Der bloß aus Gnaden Gerechtfertigte hat sein Heil freilich auch nur aus Gott, aber hütet sich in der Scheu vor prädestinatinischen Konsequenzen überhaupt vor jeder strengen Abgrenzung und Beziehung von Gott und Welt und flüchtet sich lieber in die rein religiöse Sphäre aus der Welt, die, dazu in einem unklaren und Gott allein bekannten Verhältnis stehend, lieber nur geduldet und ertragen wird.
Steht derart das alte Interesse der Heilsgewißheit im Zentrum, und ist die Vergewisserung nur durch eine einfachere Fassung der Offenbarung und eine innerlichere Aneignung der Offenbarung erreicht, dann ist ganz selbst-verständlich auch die alte Grundidee einer durch und durch autoritativen rein göttlichen Heilsanstalt bewahrt. Der Protestantismus wollte die Gesamtkirche reformieren und ist nur durch Zwang zur Aufrichtung eigener Kirchen gekommen. Sie sind Landeskirchen nur geworden, weil der Protestantismus sein Kirchenideal bloß mit Hilfe der Regierungen durchsetzen konnte und daher jenseits der Landesgrenzen auf sein Ideal verzichten mußte. Den Gedanken der Kirche selbst aber als der erlösenden und erziehenden supranaturalen Heilsanstalt hat er nirgends aufgegeben […] und konstruiert sie nur rein aus der Bibel. Die Bibel enthält das Dogma, sie trägt in sich die Bekehrungs- und Heilskräfte, sie ist das Instrument und die Quelle des Kultus, ihre fachmäßige Kenntnis begründet das geistliche Amt. […] Unter diesen Umständen besteht für den Protestantismus auch noch gar nicht das moderne Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat. Er sieht darin so wenig wie der Katholizismus getrennte Organisationen, er sieht darin nur zwei verschiedene Funktionen innerhalb des untrennbar einen und selbigen gesellschaftlichen Körpers, des Corpus Christianum. Die Geltung der religiösen Maßstäbe für das ganze Corpus, die Ausschließung oder mindestens Entrechtung der Ungläubigen und Irrgläubigen, die Intoleranz und die Infallibiltät sind daher auch für ihn selbstverständlich. […]
In alledem setzt sich die katholische Idee der supranatural geleiteten Kultur fort. Aber auch noch ein weiteres Hauptcharakteristikum dieser Kultur dauert fort, die Askese. Freilich pflegt man es als einen besonderen Vorzug des Protestantismus zu preisen, daß er der Askese ein Ende gemacht und das Weltleben wieder zu Ehren gebracht habe. Allein man braucht nur zu bedenken, daß der Protestantismus die jenseitige Abzweckung auf Himmel und Hölle aufs strengste beibehalten hat, daß er beide durch die Beseitigung des vermittelnden und aufschiebenden Fegfeuers nur noch eindrucksvoller gemacht hat, und daß seine zentrale Frage nach der Heilsgewißheit gerade auf die ewige Rettung aus der Erbsünde sich bezieht; man braucht ferner nur zu beachten, daß der Protestantismus die augustinischen Dogmen von der absoluten Erbsündigkeit und der völligen natürlichen Verdorbenheit aller Kräfte noch gesteigert hat; und man wird sich sagen müssen, daß die unausbleibliche Konsequenz der asketischen Idee hier nicht verschwunden sein, sondern nur die Form und den Sinn gewechselt haben kann. So ist es auch in der Tat. Der Protestantismus hat die Unterscheidung der beiden Stufen der christlichen Sittlichkeit beseitigt, mit der schon die alte Kirche einen Kompromiß zwischen den Forderungen der Weltmoral und der jenseitigen weltindifferenten altchristlichen Moral geschlossen hatte. Er hat das Mönchtum und die Monachisierung des Klerus aufgehoben. Aber er hat es nicht getan, weil er die innerweltlichen Werte und Güter als Selbstzwecke in irgendeinem Sinne anerkannt hätte, sondern weil er in der Absonderung von der Welt eine unerlaubte, weil selbstgewählte und äußerliche Erleichterung der Aufgabe sah. Er betrachtet die Welt und ihre Ordnungen als durch die Schöpfung gegeben und als natürlichen Boden und Voraussetzung des christlichen Handelns. Diesen natürlichen Voraussetzungen soll man sich nicht künstlich entziehen und durch selbstgemachte besondere Bedingungen sich die Aufgabe scheinbar erschweren und in Wahrheit erleichtern. Das fördert nur den Wahn von Verdiensten und menschlichem Mitwirken mit der Gnade und verbirgt das eigentliche Schwere der Aufgabe, die Welt zu haben, als hätte man sie nicht. […]
Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, dass der Protestantismus nicht unmittelbar die Anbahnung der modernen Welt bedeuten kann. Im Gegenteil; er erscheint zunächst als Erneuerung und Verstärkung des Ideals der kirchlichen Zwangskultur, als volle Reaktion mittelalterlichen Denkens, die die bereits errungenen Ansätze einer freien und weltlichen Kultur wieder verschlingt. Er hat zudem auch den Katholizismus zu einer Neubelebung seiner Idee veranlaßt, und so erlebt Europa wieder zwei Jahrhunderte mittelalterlichen Geistes. Wer freilich von der Geschichte des Staatslebens oder der Wirtschaft herkommt, wird diesen Eindruck nicht haben, da hier die Ansätze des Spätmittelalters sich ungebrochen weiterentwickeln, ja den Protestantismus zum guten Teil in ihren Dienst nehmen. Aber wer von der Geschichte der Religion und der Wissenschaft herkommt, wird sich dem Eindruck nicht entziehen können, daß erst der große Befreiungskampf des endenden 17. und 18. Jahrhunderts das Mittelalter beendet.
Nur um so dringlicher wird aber dann die Frage, inwiefern trotz alledem der Protestantismus hervorragend mitbeteiligt ist an der Hervorbringung der modernen Welt. Die Paradoxie löst sich auf, wenn wir dem mit dieser Problemstellung gegebenen Fingerzeig folgen und die Wirkungen großenteils in indirekten und in unbewußt hervorgebrachten Folgen, ja geradezu in zufälligen Nebenwirkungen oder auch in wider Willen hervorgebrachten Wirkungen suchen, wenn wir insbesondere auch neben dem eigentlichen Protestantismus auf die mit ihm sich verschlingenden Auswirkungen der humanistischen Kritik und des täuferischen Subjektivismus achten. Um so klarer wird sich dann auch die Stelle zeigen, an der ein wirklich direkter und unmittelbarer Zusammenhang besteht. […]
IV.
Der erste und am meisten in die Augen fallende Umstand ist der, daß der Protestantismus durch die Zerbrechung der Alleinherrschaft der katholischen Kirche die Kraft der kirchlichen Kultur trotz vorübergehender Wiederbelebung überhaupt bricht. Drei einander ausschließende und verdammende infallible [unfehlbare] Kirchentümer diskreditieren das Kirchentum überhaupt, von dem es keinen Plural gibt. Das 16. und 17. Jahrhundert sind nicht mehr Mittelalter, aber sie sind auch nicht Neuzeit; sie sind das konfessionelle Zeitalter der europäischen Geschichte, und erst aus der gegenseitigen, freilich nur relativen Zerreibung dieser drei Übernatürlichkeiten ist die moderne Welt entstanden, die zwar wohl das Übersinnliche, aber nicht mehr das mittelalterlich Übernatürliche kennt. So zersetzt der Protestantismus das christliche Kirchenwesen und seine supranaturalen Grundlagen überhaupt, ganz gegen seinen Willen, aber mit tatsächlicher, immer deutlicher hervortretender Wirkung […].
V.
[…] Wo aber liegen nun direkte und unmittelbare Wirkungen des Protestantismus zur Hervorbringung des modernen Geistes? Gibt es solche überhaupt oder handelt es sich auch hier nur um Wirkungen gegen sein eigenes Prinzip und wider Willen? Hierauf kann nach der bisherigen Untersuchung mit Bestimmtheit eines geantwortet werden: wenn es solche gibt, so müssen sie auf dem eigentlichen Zentralgebiet des Protestantismus, auf dem des religiösen Denkens und Fühlens selber liegen, denn auf den mehr peripherischen Kulturgebieten liegen sie sicherlich nicht. […]
Um das zu verdeutlichen, knüpfe ich an die im Anfang gegebene Charakteristik seiner religiösen Idee wieder an. Dasjenige, worauf es für ihn wesentlich ankam, war die Sicherung des alten stets erstrebten Zieles, die Heilsgewißheit, die völlige Gewißheit über die Rettung aus der Verdammung der Erbsünde durch die in Christus offenbare und von Christus bewirkte Gnade. Das war sein Hauptinteresse, aber dieses Hauptinteresse war kein neues, sondern nur die kräftig vereinfachende und leidenschaftliche plastische Herausarbeitung des alten. Was er neu brachte, war ein neues Mittel zur Erreichung dieses Zieles, ein Mittel, das von den Unsicherheiten menschlicher mitwirkender Verdienste, fremder unverstandener Autoritäten und bloß dinglicher, sakramentaler Einflößungen frei war, das den ganzen inneren Menschen absolut sicher und fest bis ins Zentrum hinein ergriff und ihn in innerlichste Berührung mit dem geistlichen Wirken selber bringen sollte. Wenn dem Katholiken gerade die äußere Autorität und die Dinglichkeit der Gnade das Heil zu verbürgen schien, so war für Luthers Gefühl jene Autorität unsicher und fremd, und diese Dinglichkeit unverständlich und unergreifbar. Er brauchte für das persönliche Leben etwas rein Persönliches. Das Mittel war daher der Glaube, die sola fides, die Bejahung eines Gedankens durch völlige Hingabe der Seele an diesen uns verständlich und klar kundgemachten Gedanken Gottes. […] Alles das hat Luther nur getan, um der Gnade völlig sicher zu werden, die ihm auf dem Wege der Verdienste und des Mönchtums, der Sakramente und der Priester-Autorität immer fremder und äußerlicher, immer menschlicher und bedingter und damit immer unsicherer zu werden drohte. Das Ziel war das alte, aber der Weg war ein radikal neuer. […]
So wurde der Protestantismus zu der Religion des Gott-Suchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen, zu einer Sicherung der allgemeinsten Haupterkenntnis durch Zusammenfassung aller persönlichsten Überzeugungen und einem vertrauenden Offenlassen aller weiteren dunklen Probleme, über die die Dogmatik des Altprotestantismus so viel zu sagen gewußt hatte. Auch hier ist es Lessing, der in seinem berühmten Worte von dem Vorzug des Suchens nach der Wahrheit vor dem Besitz der fertigen Wahrheit die moderne Religiosität typisch charakterisiert und der damit aus dem Gewebe des Protestantismus denjenigen Faden hervorzieht, an dem die moderne Welt bis heute eifrig weiter spinnt. Eigenes persönliches Suchen in selbsterlebter Gewissens- und Zweifelsnot, Ergreifen der in den geschichtlichen Offenbarungen sich bietenden Hand Gottes, um dann doch immer weiter aus eigener persönlicher Verantwortung und Entscheidung die endgültige Überzeugung zu gewinnen, und ruhiges Ertragen all der Rätsel, die auf diesem Wege ungelöst bleiben, das charakterisiert die moderne Religiosität und hängt in seiner festen Überzeugung, daß das nicht schwächliche Skepsis, sondern männlich-mutiger, das Leben zu tragen vermögender Glaube sei, mit Luthers Lehre vom Glauben eng zusammen. […]
Die moderne Kultur ist jedenfalls durch eine ungeheure Ausbreitung und Intensität des Freiheits- und Persönlichkeitsgedankens charakterisiert und wir erblicken darin ihren besten Gehalt. Dieser Gedanke ist von allen Lebensgebieten her unter der besonderen Konstellation der Umstände spontan entwickelt worden und hat vom Protestantismus nur ein überaus mächtiges, übrigens für sich selbst unabhängiges religiös-metaphysisches Fundament erhalten.
1) Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, Historische Zeitschrift Bd. 97, 1906, S. 1-66. Ausschnitte nach dem Originaltext von 1906 zusammengestellt von Reinhard Neebe.
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